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Philosophische Praxis und Spirituelle Praxis

Spiritualität

Was bedeutet spirituell leben?

Themen: Spirituelle Wurzeln – Loslassen – Moral – Schicksal – Anhaften – Einfach leben

Das Thema Spiritualität zieht sich als roter Faden durch die gesamte Website. Auf dieser Unterseite werden spirituelle Grundfragen behandelt, einige bedeutende spirituelle Lehren vorgestellt und die sprachlichen Wurzeln des Begriffs Spiritualität zurückverfolgt.

I. Woran erkennt man einen spirituellen Menschen?


Diese Frage allgemein verbindlich beantworten zu wollen, wäre eine Anmaßung. Für mich persönlich ist ein spiritueller Mensch jemand, der:

1. ... den Geist im Verhältnis zur Materie als das grundlegende Prinzip betrachtet, der aus diesem Grund die Existenz eines unverkörperten Bewusstseins für möglich hält und deshalb daran glaubt, dass es Unvergüngliches gibt.

2. ... aus dem Glauben an das Unvergängliche die Kraft schöpft, der Liebe den Vorrang gegenüber der Gier des Egos einzuräumen, das sich alles einverleiben will, weil es ausschließlich an die Existenz des Leibes glaubt.

Das was ich bin, genauso lieben zu können wie das, was ich nicht bin, ist der vielleicht fundamentalste Grundsatz der sogenannten Philosophia Perennis, die jene Grundwahrheiten in sich vereint, die zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen zu finden sind.

Ein spiritueller Mensch ist jemand, der nicht nur die äußere Erscheinung der Dinge im Auge hat, sondern gleichzeitig das unsichtbare Band, das sie miteinander verknüpft. Spirituell leben heißt, dieses Band mit dem Herzen sehen – wie Saint-Exupéry es in "Der Kleinen Prinz" ausgedrückt hat – und sein Denken und Handeln danach auszurichten. Der Hauptunterschied zwischen Materialismus und Spiritualität besteht also darin, dass der Materialist rein immanent und der spirituelle Mensch transzendent denkt und handelt.

Wer spirituell lebt, unterscheidet sich aber auch von abgehobenen Esoterikern, die den Bezug zur physischen Wirklichkeit verloren haben, sowie von pseudoreligiösen Menschen, die sich formal zu Gott bekennen, ohne dessen Gegenwärtigkeit wahrzunehmen, in allem was existiert.


Der Augenblick ist eine Welle
Der Augenblick ist eine Welle
im unwandelbaren Meer der Zeit.
Foto und Text: Andreas Tenzer
Für den spirituellen Menschen ist jeder Augenblick ein Aspekt der Ewigkeit. Er betrachtet alles, was er wahrnimmt, sub specie aeternitatis, das heißt unter dem Gesichtspunkt des Ewigen. Daraus habe ich an anderer Stelle den spirituellen Imperativ abgeleitet:

Behandle dich und alle Lebewesen so, als müsstest du ihnen für alle Ewigkeit in die Augen schauen.

Wer sich diesen Grundsatz zu eigen macht, für den wäre jeder Betrug am Anderen Selbstbetrug. Das klingt einfach und ist es auch. Denn immer, wenn wir nach diesem Grundsatz leben, leben wir spirituell, und immer, wenn wir nicht danach leben, leben wir nicht spirituell.

Zu einem spirituellen Leben gehört nicht nur eine sensible Antenne für Missstände, sondern immer auch ein waches Auge für Chancen, die sich daraus ergeben:

"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!" hat Hölderlin einmal gesagt. Gegen den globalen materialistischen Trend formieren sich weltweit starke Kräfte, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, ganzheitlich zu denken und zu handeln. Das gilt sowohl für Organisationen wie Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen, die Fridays-for-Future-Bewegung als auch für unzählige Gruppen und Einzelpersonen, die zunehmend die globale Vernetzung für ihren persönlichen Beitrag zum Wachstum des Rettenden nutzen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Welt keine verbissenen Weltverbesserer braucht, sondern Selbstverbesserer, denn jeder, der den spirituellen Imperativ lebt, rettet sich selbst und somit den Teil der Welt, auf den er unmittelbaren Einfluss hat.

Der spirituelle Imperativ ist zeitlos, gilt also auch für die Spiritualität von heute. Seine Einfachheit bedeutet nicht, dass er auch einfach zu leben ist. Deshalb steht auf dieser Internetseite die Frage im Mittelpunkt:
Welche Herausforderungen begegnen uns auf dem spirituellen Weg und wie können wir sie positiv bewältigen?

II. Herkunft des Begriffs Spiritualität

Der Begriff Spiritualität geht auf das lateinische Wort spiritus zurück, das sowohl Atem, Leben, Seele als auch Geist bedeutet. Später wurde daraus das englische spirit abgeleitet. Im Altgriechischen hatte es mit pneuma, nous und psyche noch drei verschiedene Begriffe gegeben, deren Bedeutung mit spiritus weitgehend übereinstimmt.


Laotse - Begründer des Taoismus
Laotse
mit Konfuzius und Arhat bei einem meditativen Gespräch

Die in der abendländischen Mythologie verwendete Metapher "Seele einhauchen" verbindet alle drei Grundbedeutungen, insofern aus toter Materie durch den göttlichen Hauch ein beseeltes Lebewesen entsteht. Hier liegt bereits der Grundstein für einen Leib-Seele-Dualismus, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der abendländischen Kultur zieht.

In östlichen Kulturkreisen ist der Begriff Seele dagegen weniger verbreitet, und stattdessen wird eine nichtduale Einheit angenommen, in der alle Gegensätze von Materie und Geist, von Immanenz und Transzendenz aufgehoben sind. Zwar gibt es auch in der indischen Advaita Vedanta-Philosophie den Begriff Atman, der ähnlich wie das altgriechische psyche Atem, Lebenshauch und Seele bedeutet, der aber im Sinne einer individuellen, unzerstörbaren Essenz des Geistes mit der Weltenseele Brahman wesenseins ist. Advaita Vedanta ist somit ähnlich wie der Taoismus und Buddhismus eine Philosophie, die auf Nichtdualität basiert.

In der Geschichte der westlichen Spiritualität finden wir nichtduale Ansätze vor allem in der christlichen Mystik des Mittelalters, zum Beispiel bei Meister Eckhardt, sowie in der philosophisch-spirituellen Interpretation quantenphysikalischer Phänomene.

Kulturübergreifend kommt dem Atem die Bedeutung der Lebenskraft zu. Mit dem ersten selbständigen Atemzug beginnt unser Leben und endet mit dem letzten. Je nachdem, wie wir atmen, versorgen wir unsere Körperzellen mit viel oder wenig Sauerstoff und beeinflussen damit unsere Vitalität positiv oder negativ. Die Atemfrequenz bewirkt innere Ruhe oder Unruhe und der Atemrhythmus hat maßgeblichen Anteil daran, ob wir in Balance oder unausgeglichen sind. Das Atmen ist also nicht nur im Zusammenhang mit Meditation eine zutiefst spirituelle Tätigkeit.

III. Spirituelle Wurzeln und Essenzen


Auch wenn die Wurzeln der Spiritualität bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreichen – wie etwa die der Veden und des Taoismus – so begegnen uns doch erst im 6. Jahrhundert vor Christus in Laotse und Buddha die beiden ersten großen spirituellen Lehrer. Im Laufe der Geschichte hat der Buddhismus eine wesentlich größere Verbreitung gefunden als der Taoismus. Dieser bietet jedoch auf der Suche nach den Wurzeln der Spiritualität den Vorteil, dass er auf einem Text basiert, in dem alle wesentlichen Elemente der Spiritualität enthalten sind, und der auch zweieinhalb Jahrtausende nach seiner Niederschrift nichts an Aktualität eingebüßt hat: das Tao Te King von Laotse.

Obwohl das Wort Spiritualität kein einziges Mal in dieser Schrift auftaucht und der Autor nicht etwa die Absicht hatte, eine Art "spirituelle Bibel" zu verfassen, gilt das Tao te king unter Freunden einer undogmatischen Spiritualität noch heute als spiritueller Klassiker ersten Ranges. Im Zentrum dieser Schrift steht der Begriff Tao.

Der Sinologe Richard Wilhelm stellte zutreffend fest, dass Laotse diesen Ausdruck als "ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches" verwendete. Mathematisch könnte man es als ein X bezeichnen mit dem Definitionsbereich unendlich, was insofern einen logischen Widerspruch darstellt, als definire im Lateinischen begrenzen bedeutet. Für Laotse ist das Unbegrenzte nicht nur nicht begrenzbar und somit undefinierbar, sondern eigentlich unbenennbar. Deshalb wird Tao neben Sinn, Weg und Leben auch mit das Unbenennbare oder Namenlose übersetzt.

Wenn Tao als Metapher für das Grenzenlose per definitionem undefinierbar ist, kann man dann überhaupt etwas darüber aussagen? Von Laotse erhalten wir zunächst die für westliche Menschen unbefriedigende Antwort, dass es Sein und Nichtsein ist. Dem Ursprung nach, heißt es in Kapitel 1 des Tao te king, seien beide eins, und das Tao als Einheit von Sein und Nichtsein sei das tiefste Geheimnis.

Es ist sowohl das unentfaltete Urprinzip allen Seins und die universelle Wirkkraft in allem, was existiert, als auch die Gesamtheit aller Manifestationen, das heißt die raumzeitlose Einheit von Sein und Nichtsein, von Dualität und Nichtdualität, von Erde und Himmel, von Samsara und Nirvana usw. Diese kosmo-psychologische Weltsicht Laotses wurde im 20. Jahrhundert durch Forschungsergebnisse der Quantenphysik eindrucksvoll bestätigt, wie ich unter anderem auf der Seite I-Ging ausführlich dargelegt habe.

Zwar lässt sich das Tao nicht in die Karten blicken, wir können aber ähnlich wie wenn wir ein Kartenspiel beobachten erfahren, welche Karten auf den Tisch kommen und wie sie gespielt werden. Das I-Ging oder Buch der Wandlungen, mit dem Laotse sehr vertraut war, stellt mit seinen 64 Hexagrammen den Versuch dar, die "Spielkarten" des Tao in eine variable Systematik zu bringen, die dem spielkundigen Menschen als Orientierungshilfe sowohl für das Leben als Ganzes als auch für alltägliche Lebenssituationen dienen kann.

Die Einsicht in die Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Tao ermöglicht es dem spirituellen Menschen, kontinuierlich in dem Bewusstsein zu leben, dass die phänomenale und die geistige Welt untrennbar miteinander verbunden sind. So kann er in jeder Erscheinung das heißt in allen Gegenständen, Lebewesen und Ereignissen gleichzeitig deren immanente Wandelbarkeit und Vergänglichkeit sehen und das diese bewirkende aber selbst im Verborgenen bleibende Unwandelbare und Unvergängliche in Aktion beobachten.

Die bloße Einsicht in diese fundamentale Konstante des Lebens, die alle Wandlungsprozesse vor dem Hintergrund des Unwandelbaren umfasst, ist zwar eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für ein spirituelles Leben. Erst wenn diese Einsicht, die weder durch Glauben noch durch Wissen, sondern allein durch wache Beobachtung gewonnen werden kann, tief im Denken und Handeln verwurzelt ist, kann davon gesprochen werden, dass ein Mensch im Einklang mit dem Ganzen lebt.

Das heute teilweise zu einer nichtssagenden Floskel verkommene "Im-Einklang-mit-dem-Tao-leben" ist bei Laotse eine kristallklare Konsequenz, deren Wurzeln im Taobegriff selbst verankert sind. Erkennt man das Tao als die alles gestaltende gestaltlose Macht an, resultiert daraus die kosmo-logische Konsequenz, im Bunde mit dieser Macht zu handeln und nicht gegen sie.

Im Taoismus wird für ein Handeln, das nicht auf die Durchsetzung des beschränkten Eigenwillens ausgerichtet ist, sondern sich bei jedem Atemzug am Willen des Ganzen orientiert, der Begriff Wu wei verwendet, meist mit Handeln im Nichthandeln übersetzt. Im Westen kommt dem das Loslassen am nächsten. Aus der Sicht des Tao heißt das:

"Tao ist ewig ohne Tun,
doch nichts bleibt ungetan."

Kapitel 37 nach Übersetzung W. Kopp

Für den im Einklang mit dem Tao Handelnden bedeutet es:

"Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
darum wird sein Eigenes vollendet?"

Kapitel 7 nach der Übersetzung von Richard Wilhelm

Die im Wu wei enthaltene spirituelle Kraft des Loslassens lehrt nicht nur der Taoismus. Wir finden ähnlich starke Wurzeln beispielsweise im hinduistischen bhakti als die liebende Hingabe an einen personalen Gott und im vedischen tat twam asi = das bist du, im buddhistischen Mitgefühl als Konsequenz der Einheit von Nirvana und Samsara und ebenso im christlichen "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!"

Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, quasi als spiritueller Imperativ, könnte diese Botschaft lauten: "Lebe im Einklang mit dem Ganzen!" Sie ähnelt zwar Kants kategorischem Imperativ, unterscheidet sich aber von diesem in einem wesentlichen Punkt. Während Kant bei seiner Formulierung allgemeingültige Normen im Hinterkopf hatte, bedeutet Einklang mit dem Ganzen im spirituellen Sinne den völligen Verzicht auf Normen jeder Art zugunsten einer individuellen, augenblicksbezogenen Identifikation mit dem Ganzen und schließlich das daraus resultierende Handeln.

"Das Wahre ist das Ganze." Dieser Fundamentalsatz der hegelschen Philosophie basiert ebenfalls auf den alten Lehren von der Einheit und dem beständigen Wandel allen Seins. Wahrheit offenbare sich stets in der Entwicklung einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft usw. Deshalb könne nie ein einzelnes Stadium im Entwicklungsprozess wahr sein, da dessen "Wahrheit" im nächsten Entwicklungsschritt bereits wieder aufgehoben werde. Und darum könne man bestimmte Lebensprozesse erst verstehen, wenn sie zum Abschluss, zur Vollendung gekommen seien: "Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." G.W.F. Hegel

IV. Spiritualität und Moral


Moral ist die Zuordnung jedes Augenblickszustands unseres Lebens zu einem Dauerzustand.
Robert Musil deckt mit dieser Definition von Moral die Schwachstelle aller moralischen Vorschriften auf. Jede Moral geht von der falschen Voraussetzung aus, dass verschiedene Lebenssituationen miteinander vergleichbar seien. In Wirklichkeit erfordert aber jeder einzelne Augenblick von uns die individuelle Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Handeln. Wer einer moralischen Vorschrift folgt, orientiert sich nicht am Willen des Ganzen, der sich uns immer unmittelbar offenbart, sondern am Willen derer, die sich bestimmte Moralgesetze ausgedacht und für allgemein verbindlich erklärt haben.

Moral ist stets die Erfindung derer, die den unmittelbaren Kontakt zum Ganzen, wie auch immer dieses bezeichnet wird - Gott, Tao, Dharma usw. - verloren haben und glauben, diesen Verlust durch mehr oder weniger willkürlich aufgestellte Regeln kompensieren zu können. Moralisten tun sich mit dem Loslassen besonders schwer. Nicht selten entwickeln sie einen missionarischen Eifer, der die Einhaltung ihrer subjektiven Moralvorstellungen auch von anderen verlangt.

Heraklit - Panta rhei
Heraklit, griechischer Philosoph
535 475 v. Chr.

Er war der erste westliche Philosoph, der den permanenten Wandel allen Lebens betonte, auch wenn das berühmte - ihm immer wieder zugeschriebene -
panta rhei = alles fließt
höchst wahrscheinlich nicht aus seiner Feder stammt.


Moralische Vorschriften bringen den Menschen dadurch in Verwirrung, dass er neben der inneren Stimme, die ihm klar sagt, was im jeweiligen Augenblick zu tun ist, noch eine zweite äußere Stimme hört, die ihm vorschreibt, wie er sich ganz allgemein zu verhalten hätte. Deshalb sagt Laotse:
"Die Moral aber ist nur der äußere Schein von Treue und Glauben und der Verwirrung Beginn."

Als Jesus am Sabbat einen Kranken heilte, geriet er nicht in Verwirrung, weil er sich ausschließlich am göttlichen Gesetz orientierte. Dagegen bestanden die scheinheiligen Pharisäer auf der Einhaltung der Gesetze aus Menschenhand und forderten den Tod des "unmoralischen" Rebellen aus Nazareth.

Auf Moral zu verzichten bedeutet nur bedingt, "Jenseits von Gut und Böse" zu sein. Jenseits davon ist man nur insofern, als man Gut und Böse als allgemein gültige Kategorien ablehnt. Dennoch stehen wir in jedem Augenblick vor der Wahl, der Stimme unseres Herzens zu folgen, oder ihr zuwider zu handeln. So wie Jesus wusste, dass seine Heilung am Sabbat gut war und deren Unterlassung böse gewesen wäre, so weiß jeder Mensch, solange er sich im Einklang mit dem Ganzen befindet, jederzeit was gut und böse ist und handelt im Idealfall danach. Verantwortungsbewusst handelt nur, wer seiner inneren Stimme folgt. Moral ist Flucht vor Verantwortung.

Zyniker könnten hier einwenden, dass Jesus besser nicht auf seine innere Stimme hätte hören sollen, da sie ihn schließlich ans Kreuz gebracht hat. Aus einer rein immanenten Weltsicht heraus ist diese Kritik nachvollziehbar. Wer sich aber für den spirituellen Pfad entscheidet, für den ist alles immer immanent und transzendent zugleich. Nur als bewusste Verkörperung des Ganzen war Jesus in der Lage, die aus rein irdischer Sicht schrecklichen Konsequenzen seines Verhaltens zu tragen, das heißt zu seinem Schicksal Ja zu sagen.

V. Spiritualität und Schicksal

Hermann Hesse über Schicksal und Spiritualität:
"Wer wirklich gar nichts will als sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein und hat nur den kalten Weltenraum um sich. Wissen Sie, das ist Jesus im Garten Gethsemane. Es hat Märtyrer gegeben, die sich gern ans Kreuz schlagen ließen, aber auch sie waren keine Helden, waren nicht befreit, auch sie wollten etwas, was ihnen liebgewohnt und heimatlich war, sie hatten Vorbilder, sie hatten Ideale. Wer nur noch das Schicksal will, der hat weder Vorbilder noch Ideale mehr, nichts Liebes, nichts Tröstliches hat er! Und diesen Weg müßte man eigentlich gehen. Leute wie ich und Sie sind ja recht einsam, aber wir haben doch noch einander, wir haben die heimliche Genugtuung, anders zu sein, uns aufzulehnen, das Ungewöhnliche zu wollen. Auch das muß wegfallen, wenn einer den Weg ganz gehen will. Er darf auch nicht Revolutionär, nicht Beispiel, nicht Märtyrer sein wollen. Es ist nicht auszudenken."

Wer kann diesen Weg, den Hermann Hesse in Demian beschreibt, wirklich ganz gehen? Niemand, der für sich in Anspruch nimmt, spirituell zu leben, kommt daran vorbei, sein Schicksal zu wollen. Es nicht immer zu können, ist menschlich, doch bei jedem kleinen Unglück mit dem Schicksal zu hadern, wäre kindisch. Wer glaubt, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, solange ihm das Glück zur Seite steht, neigt am ehesten dazu, mit dem Schicksal zu hadern, wenn sich das Glück einmal abwendet.

Die heute weit verbreitete Glückssucht ist der sicherste Garant für das Unglücklichsein, denn wer sich mit seinem Glück identifiziert, wird es auch mit seinem Unglück müssen, und dieses wird dann schließlich sein ständiger Begleiter, wenn er die Gründe dafür auf andere projiziert oder eine höhere Macht auf die Anklagebank stellt. Anhaftung und Projektion sind als eine Form von Unwissen die größten Hindernisse für ein spirituelles Leben, da sie jedes befreiende Loslassen verhindern. Auf dem spirituellen Pfad reift mit jedem Schritt die Erkenntnis:


Anhaften und Loslassen
Die Existenzform des Selbst ist das Loslassen
und die des Ego das Anhaften.
Anhaften heißt, Selbstmord begehen.

"Woran du hängst, das ist dein Galgen."
Andreas Tenzer

Was hat der Mensch zu fürchten, der sein Schicksal will? Solange wir mit dem Ganzen verbunden sind, brauchen wir uns vor nichts zu fürchten, denn Angst vom Lateinischen angustus = eng abgeleitet entsteht erst dann, wenn wir die Trennung vom Ganzen als Gefühl der Enge in uns wahrnehmen. Enge bedeutet Gefangenschaft, und wenn die Wände, die uns gefangen halten, von allen Seiten auf uns zu rücken, bedeutet sie in letzter Konsequenz unseren Tod.

Das Gegenteil von Angst ist Urvertrauen, die Gewissheit, dass es außer in unseren Köpfen keine Enge gibt und dass der Kern unserer Existenz auf ewig in den Weiten des kosmischen Bewusstseins zu Hause ist. Urvertrauen weitet unseren Horizont ins Unendliche: Aus einengenden Wänden der Angst werden fliehende Wände der Befreiung, die sich am Horizont des kosmischen Bewusstseins von vertikalen Hindernissen in horizontale Brücken verwandeln, welche uns den Weg ins Unbegrenzte ebnen: Frei ist, wem die Wände fliehen!

Und nur wer in dem Urvertrauen lebt, dass alles Einengende verschwindet, wenn man sich nicht selber einengt, ist wirklich frei. Er will sein Schicksal, indem er darauf vertraut, dass - aus der Perspektive des Ganzen betrachtet - alles gut ist, was ihm im Leben begegnet und was mit ihm geschieht. So kann er Lebewesen und Dinge lieben, statt sich an ihnen festzuklammern oder zu erhängen.

Sein Schicksal wollen bedeutet vor allem, sein Schicksal nicht erzwingen zu wollen. Wir alle kennen das Phänomen, dass die Dinge, denen wir mit besonderer Verbissenheit nachjagen, für uns gar nicht oder nur mit einem unvertretbaren Aufwand zu erreichen sind. Greifen und Anhaften sind das Gegenteil von Loslassen und lösen Fluchttendenzen bei den in Angriff genommenen Gegenständen, Personen, Aufgaben oder Zielen aus. Selbst wenn es uns gelingt, das Ergriffene festzuhalten, können wir es nicht in Ruhe und Gelassenheit genießen, da wir permanent in Angst davor leben, dass es uns entwischen könnte.


VI. Wer oder was ist das Ganze? – Persönlicher Gott oder apersonales Urprinzip?

In Religion und Spiritualität ist das Angebot an persönlichen Göttern und apersonalen Urprinzipien riesig. Wir haben die Wahl zwischen monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam, können uns für den Polytheismus der alten Ägypter, Griechen, Römer, Germanen usw. entscheiden oder für den Hinduismus, in dem es sowohl monotheistische, poly- bzw. henotheistische und apersonale Richtungen gibt. Wer letztere bevorzugt, könnte seine geistige Heimat etwa im Taoismus, Buddhismus oder Hegels Weltgeist finden. Wem auch diese Lehren noch zu spirituell sind, kann sich schließlich zum Atheismus bekennen.

Der Vorteil apersonaler Urprinzipien besteht darin, dass die Gefahr vermieden wird, auf einen Gott oder mehrere Götter eigene Phantasien zu projizieren. In der Bibel heißt es: "Fertige dir kein Gottesbild an.", 2 Moses, II,4. Wie sollte man auch einen Gott darstellen, von dem man annimmt, dass er "Alles" ist? Müsste nicht, wer von der Allgegenwart Gottes ausgeht, ihn nicht auch in allem sehen können? Andererseits birgt aber die Suche nach dem Apersonal-Göttlichen die Gefahr in sich, dass man sich ein göttliches Prinzip zurechtdenkt, das zwar plausibel sein mag, doch Herz und Seele kaltlässt. Der indische spirituelle Lehrer Sri Aurobindo, 1872-1950, hat diese Problematik auf den Punkt gebracht:

"Nach dem Apersonal-Göttlichen zu suchen ist der Weg derer, die sich vom Leben abwenden wollen. Gewöhnlich versuchen sie es durch eigene Anstrengung und nicht durch Öffnen für eine höhere Macht oder durch Übergabe. Denn das Apersonale führt und hilft nicht, sondern muß erreicht werden, wobei es jedem Menschen überlassen bleibt, es auf seinem Weg zu erreichen, der der Möglichkeit seiner Natur entspricht. Wenn man sich der Mutter öffnet und übergibt, kann man andererseits auch das Apersonale wie jeden anderen Aspekt der Wahrheit verwirklichen."
Sri Aurobindo in Licht auf Yoga, Seite 37

Die Wahrheit dieser Aussage habe ich am eigenen Leib erfahren. Erst nachdem mein Verstand vor dem Absoluten kapituliert hatte und ich mich bedingungslos der höheren Macht hingeben konnte, standen plötzlich Urvater und Urmutter unmittelbar vor mir und erfüllten mich mit einer Lichtwärme, die zuvor außerhalb meiner Vorstellungskraft gelegen hatte. Das war mehr als eine kopernikanische Wende. Es war ein völlig neues In-der-Welt-Sein, verbunden mit der Gewissheit, dass es ein Dahinter-Zurück nicht geben kann.

Diese Gewissheit überstand auch die Hölle auf Erden, die ich unmittelbar danach erlebte. Als mir zwei Jahre später Laotses Tao te king zum wiederholten Male in die Hand fiel, hatte ich das Gefühl, ein neues Buch zu lesen. Die unmittelbare persönliche Begegnung mit dem Absoluten ließ mir nun auch das apersonale Tao in einem neuen Licht erscheinen. Verstandesmäßige Klarheit und Herzenswärme waren nun nicht mehr voneinander zu trennen.

Begegnet uns das Göttliche oder Absolute in Form von Bildern, so liegt darin sowohl ein Risiko als auch eine Chance. Halten wir die Bilder für das Absolute selbst, begehen wir den Fehler, uns ein Bild vom Unsichtbaren zu machen.

" Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herrn, und nicht von den Menschen, die seine Geschöpfe sind. "

Dieser Satz aus Max Frischs Andorra enthält eine ebenso zeitlose Wahrheit wie die zentrale Botschaft in Saint-Exupérys Der kleine Prinz:

"Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."


Der dieser Aussage unmittelbar vorangehende Satz "Man sieht nur mit dem Herzen gut." zeigt aber auch, dass wir ein Organ besitzen, mit dem wir das Absolute wahrnehmen können. Die Bilder, die sich dem weit geöffneten liebenden Herzen zeigen, sind keine Projektionen, sondern Manifestationen des absoluten Selbst - wie immer wir dieses auch nennen.

Erst wenn wir die individuelle Form, in der uns das Absolute erscheint, verabsolutieren und für allgemein verbindlich erklären, geraten wir in Gefahr. Solange wir uns kein Bildnis von Gott und den Menschen machen, sondern lediglich den leeren Raum in uns zur Verfügung stellen, in dem sie als die erscheinen können, die sie sind, richten Bilder nicht nur keinen Schaden an, sondern sind für jeden spirituellen Menschen eine Quelle der Freude und Kraft.

Der personale und apersonale Umgang mit dem Absoluten schließen sich also keineswegs aus. Im Idealfall ergänzen sie sich wechselseitig. Erst wenn wir durch radikales und konsequentes Denken zu der Einsicht gelangt sind, dass wir über das Absolute keine Kenntnisse erwerben können, kann dieses sich uns als Erkenntnis in Wort, Bild und Tat offenbaren:

"Wenn wir über Kenntnisse
hinausgegangen sind,
werden wir Erkenntnis haben.
Denken war der Helfer;
Denken ist das Hindernis."

Sri Aurobindo in Kaskaden des Lichts, Seite 5

VII. Spirituell leben heißt einfach leben

Spiritualität verträgt sich nicht mit einem komplizierten Leben. Wenn wir an tausend Dinge denken müssen und tausend Dinge zu regeln haben, entgleitet uns zwangsläufig das Wesentliche. Sein Leben zu vereinfachen bedeutet vor allem, sich von unnötigem Ballast jeglicher Art zu befreien. Dazu gehören materielle Dinge, die wir nicht wirklich brauchen ebenso wie geistige Konzepte, die unsere Präsenz einschränken. Einen wirklich spirituellen Menschen erkennt man an seiner einfachen und bodenständigen Lebensweise.

Beim spirituellen Pfad geht es nicht darum, sich etwas anzueignen, sondern etwas loszuwerden. Besonders im Westen verkomplizieren wir unseren Alltag künstlich, indem wir eine umfassende Sorgestruktur aufbauen, die uns keine Zeit zur Besinnung lässt. Unsere Wirtschaftsstruktur mit ihrer Jagd nach immer mehr materiellem Wachstum lässt den Minutenzeiger wie einen Sekundenzeiger ticken.

Wem es nicht gelingt, sich davon zu befreien, kann zwar spirituell denken aber nicht leben. "Zeit ist Geld", lautet die Formel des modernen Menschen, der mehr Uhrvertrauen hat als Urvertrauen. Kein Wunder, dass der Zeitraffergeist zu innerer Unruhe führt, verbunden mit dem Gefühl, nie satt zu werden. Unzufriedenheit und psychosomatische Krankheiten sind eine ebenso zwangsläufige Folge wie die permanente Angst, etwas zu verlieren oder nicht zu bekommen.

Die beste Methode, der "Hölle der Hungrigen Geister" wie diese existenzielle Grundhaltung des Anhaftens im tibetischen Buddhismus genannt wird zu entrinnen, ist der kontemplativ wache Blick nach innen. Hierin sind sich die alten östlichen Lehren und die moderne Psychologie weitgehend einig.

Wer durch einfaches regelmäßiges Meditieren seiner eigenen Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Körperempfindungen, Wünsche und Impulse gewahr wird, kann die Fähigkeit entwickeln, nicht in die Fallen zu tappen, die die moderne Zivilisation uns täglich stellt. Meditation ermöglicht uns zu erkennen, was wir wirklich wollen und brauchen. Es ist unendlich viel weniger als wir glauben oder man uns glauben machen will.



Einheit in Verbundenheit
Einfachheit ist die freiwillige Beschränkung auf das Wesentliche.
Foto und Text: Andreas Tenzer

Wer einfach lebt, wird auch in beschissenen Zeiten für sein Wohlbefinden sorgen können, sein Gleichgewicht bewahren und vor allem: auf engstem Raum zu tanzen verstehen ...


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